Dr. Bastian Thaa
Für den Fall der Fälle – das Schreiben von Fallberichten
Der medizinische Fortschritt beruht nicht nur auf klinischen Studien, Metaanalysen oder langen Übersichtsarbeiten. Fallberichte (Case Reports) mögen weniger umfangreich sein, sie tragen aber ebenso zum medizinischen Wissen bei. Die Schilderung einer bemerkenswerten Beobachtung aus dem klinischen Alltag ist nämlich oft besonders praxisrelevant und anschaulich und bietet hohen Mehrwert für Ärzte, Forschung und Industrie. Lesen Sie hier mehr dazu.
Was ist ein Fallbericht eigentlich?
Ein Fallbericht beschreibt in der Rückschau die Krankengeschichte eines einzelnen Patienten oder einer kleinen Patientenserie. Damit unterscheidet sich ein Fallbericht von einer klassischen wissenschaftlichen Arbeit oder einer klinischen Studie, wo im Voraus Hypothesen formuliert bzw. Endpunkte festgelegt werden, dann Daten erhoben und diese schließlich ausgewertet und interpretiert werden. Im Gegensatz dazu gleicht ein Fallbericht eher einer Anekdote oder Geschichte – allerdings im wissenschaftlichen Schreibstil und veröffentlicht in einer Fachzeitschrift. Denn nur so wird der Fall überhaupt erst einem breiteren Fachpublikum zugängig; ansonsten wäre der Fall höchstens eine Randnotiz, die einem Kollegen am Rande eines Kongresses erzählt wird, oder gar nur ein Eintrag in einer Krankenakte. Manche Patientenfälle sind aber so außerordentlich, dass es sich definitiv lohnt, darüber zu berichten. Dabei kann es sich um eine neuartige Erkrankung handeln oder eine extreme Ausprägung einer bekannten Krankheit, um den individuellen Erfolg einer Behandlung bei einem bestimmten Patienten oder um eine unerwartete Wirkung von Arzneimitteln. Dank des Fallberichts lassen sich in der Folge etwa Nebenwirkungen vermeiden oder individualisierte Therapieansätze ausprobieren, eventuell wird das Bewusstsein für einen neuen Krankheitserreger geschärft oder gar die mögliche Wirksamkeit eines Medikaments in einer neuen Indikation erkannt – in jedem Fall kann der Fallbericht Ärzte, Pharmaunternehmen oder Forscher zum Querdenken anregen und inspirieren. Während heute Fallberichte nur noch selten neue Krankheiten zum Thema haben, so war das in der Medizingeschichte anders: Nicht selten beschrieb der Entdecker einer Krankheit diese zunächst im Rahmen eines Fallberichts.
In der heutigen Zeit liefern Fallberichte häufig wertvolle »real-world«-Daten zu Arzneimitteln, also Beobachtungen darüber, wie sich ein Wirkstoff in der Praxis bewährt – insbesondere, wenn die Behandlung den klinischen Verlauf unerwartet günstig beeinflussen konnte, womöglich bei einem Patienten, der im vordefinierten Patientenkollektiv einer klinischen Studie nie erfasst worden wäre. Das schafft besonderen Praxisbezug. Dabei bieten Fallberichte aber nicht nur für behandelnde Ärzte einen Nutzen – es besteht auch Potential für Pharmaunternehmen, denn ein Fallbericht kann einem Arzneimittel eine besondere Sichtbarkeit in Fachkreisen verleihen. Somit ist Außendienstmitarbeitern zu raten, im Gespräch mit dem Arzt über ein Medikament nicht nur Erfahrungen und Patientenfälle zu diskutieren, sondern auch das Verfassen eines Fallberichts zu empfehlen, sofern ein Fall besonders bemerkenswert ist. In der Folge kann Kontakt zu einem Medical Writer aufgenommen werden, der beim Schreiben hilft – mit Mehrwert für Arzt und Unternehmen.
Wie schreibt man einen Fallbericht?
Damit ein Fallbericht ein breites Fachpublikum erreichen kann, hat es sich eingebürgert, den Text in präziser Sprache nach dem Muster wissenschaftlicher Papers zu verfassen. Inzwischen gibt es hierfür auch eine Leitlinie medizinischer Fachzeitschriften (»CAse REporting Guidelines/CARE«, [1]). Dennoch ist ein Fallbericht aber im Wesentlichen eine Geschichte – gerade der Fokus auf einen einzelnen Patienten macht den Fallbericht einprägsam und praxisnah. Dabei soll die Geschichte aber nicht ausgeschmückt werden – in der Regel ist ein Fallbericht kurz und konzise, häufig nicht länger als 1.000 Wörter.
Ausgangspunkt ist, dass man genug Stoff hat, um überhaupt eine gute Geschichte erzählen zu können – sprich: eine außergewöhnliche, einigermaßen umfangreiche Krankengeschichte mit einer erstklassigen klinisch-diagnostischen Dokumentation (Befunde der diagnostischen Bildgebung, Laborwerte, OP-Berichte etc.). Wenn man erwägt, die Geschichte im Rahmen eines Fallberichts zu erzählen, sollte zunächst eine geeignete Fachzeitschrift festgelegt werden – nicht zuletzt, damit man beim Verfassen die geforderten formalen Kriterien berücksichtigen kann. Für ein internationales Publikum gibt es disziplinübergreifende Journals in englischer Sprache speziell für Fallberichte, zum Beispiel »BMJ Case Reports« oder das »Journal of Medical Case Reports«. Des Weiteren veröffentlichen auch viele fachrichtungsspezifische Zeitschriften Fallberichte, sowohl nationale (auf Deutsch) als auch internationale (auf Englisch).
Die Geschichte bekommt dann erst mal einen Titel. Dieser sollte den Inhalt möglichst gut definieren und zusammenfassen – die potentiellen Leser werden als erstes den Titel sehen und auf dessen Basis entscheiden, ob sie weiterlesen möchten oder nicht. Eine gute Strategie für die Titelsuche kann sein, sich zu überlegen, wie man die ganze Geschichte in einer SMS (160 Zeichen) oder einem Tweet (140 Zeichen) beschreiben könnte – auf diese Weise bekommt man sozusagen automatisch einen griffigen Titel. Natürlich sind hierzu auch die Richtlinien der Zeitschrift zu beachten. Manche Journals verlangen, dass der Begriff »Fallstudie« bzw. »case report« im Titel auftaucht, andere nicht. Wenn diese Bezeichnung nicht explizit gefordert wird, kann man auch gut mit einer Formulierung wie »Erstmaliges Auftreten von X in Deutschland« verdeutlichen, dass es sich bei der Publikation um eine Fallstudie handelt.
Es folgt ein Abstract, der die wichtigsten und wesentlichen Aussagen des Fallberichts zusammenfasst. Am besten ist es, den Abstract als Letztes zu schreiben, wenn das ganze Manuskript erstellt ist. In diesem Zusammenhang sollen auch ungefähr fünf Schlüsselbegriffe (»Keywords«) festgelegt werden, über die der Artikel in Datenbanken zu finden sein wird. Es empfiehlt sich also, zumindest manche dieser Schlüsselbegriffe möglichst spezifisch zu wählen, statt nur sehr generelle Begriffe wie »Schmerz« oder »Infektion« zu verwenden. Eine Suche in der Liste biomedizinischer Schlagwörter (»Medical Subject Headings«/MeSH, [2]) kann im Zweifel helfen.
Der eigentliche Text des Fallberichts startet dann mit einer kurzen Einleitung, die in wenigen Worten den Stand des Wissens beschreibt und kurz die nötigen Grundlagen erläutert – also die Dinge, die der Leser benötigt, um die Geschichte zu verstehen; die Dinge, die der Arzt wusste, als sich der Patient vorstellte; die Dinge, die auf dem Gebiet kontrovers, schwierig oder ungeklärt sind. Es sollte insbesondere deutlich werden, was die Motivation für den Fallbericht ist. In der Regel besteht die Einleitung nur aus ein paar wenigen Sätze, am besten mit ein paar Zitaten (Übersichtsartikel) belegt, und beschreibt gewissermaßen in wenigen Worten die Bühne, auf der sich die Geschichte abspielt.
Daraufhin tritt die Hauptfigur auf – der Patient. Der Fallbericht stellt jetzt – wiederum in knapper Form – die Anamnese dar, welche diagnostischen Werkzeuge zum Einsatz kamen, welche Befunde die Untersuchung lieferte und wie all dies zu einer Verdachtsdiagnose oder Diagnose führte. Man kann zudem die Beschreibung mit einer Abbildung ergänzen, die beispielsweise Daten eines bildgebenden Verfahrens zeigt – besonders dann, wenn »ein Bild mehr als tausend Worte sagt«. Alle wichtigen Hintergrundinformationen über den Patienten wie Alter, Geschlecht, sozioökonomischer Status, Vorerkrankungen usw. sollen (anonymisiert) genannt werden, sodass der Leser gewissermaßen den Patienten vor sich zu sehen meint. Als Arzt bekommt man dadurch den Eindruck, dass der geschilderte Patient ebenso gut auch ein eigener Patient hätte sein können – dann ist der ideale Praxisbezug hergestellt.
Jetzt, wo der Patient und das Krankheitsbild dargestellt sind, geht die Geschichte mit der Behandlung des Patienten weiter, mit besonderem Augenmerk auf einen besonderen Verlauf. Unter Umständen lassen sich Erfolge oder Komplikationen der Behandlung mit Abbildungen illustrieren. Es kann außerdem für den Leser hilfreich sein, den zeitlichen Verlauf von Krankheit und Therapie graphisch auf einer »Zeitachse« darzustellen.
Damit ist die eigentliche Geschichte erzählt – nun folgt die Diskussion. Jetzt soll der Leser erfahren, was den vorliegenden Fall so speziell macht. Dazu kann man den vorliegenden Fall ins Verhältnis zur herrschenden Meinung setzen, wie sie etwa in Leitlinien zum Ausdruck kommt. Zusätzlich sollte der vorliegende Fall mit ähnlichen Fallberichten verglichen werden, oder auch mit vermeintlich ähnlichen Fällen, wo die Folgerungen anders waren. Da es sich um einen Einzelfall handelt, sind keine stringenten statistischen Auswertungen oder ein Nachweis der Allgemeingültigkeit zu leisten. Nach Möglichkeit sollte aber versucht werden, Schlussfolgerungen und Empfehlungen für die Praxis abzuleiten – dann können andere Ärzte, Pharmaunternehmen und Forscher am besten vom Fallbericht profitieren.
Die Patienten müssen mit der Veröffentlichung ihrer Geschichte als Fallbericht einverstanden sein, was in der Regel über ein entsprechendes Einwilligungsformular (»patient consent form«) geregelt wird. Manche Journals bieten auch die Möglichkeit, dass die Patienten ihre eigene Sicht und ihre Erfahrungen schildern und so den Fallbericht um die Patientenperspektive ergänzen.
Fazit
Ein Fallbericht ist eine in wissenschaftlicher Sprache geschriebene Geschichte, die kurz und konzise einen bemerkenswerten Fall aus der klinischen Praxis präsentiert. Fallberichte finden Beachtung und fördern den medizinischen Fortschritt. Das Verfassen von Fallberichten ist eine der Stärken von co.medical. Wir helfen Ihnen gerne dabei – kontaktieren Sie uns!
Referenzen
1. http://www.care-statement.org/ und Gagnier JJ, Riley D, Altman DG, Moher D, Sox H, Kienle GS, for the CARE group: The CARE guidelines: Consensus-based clinical case reporting guideline development. Dtsch Arztebl Int 2013;110(37):603-608. DOI: 10.3238/arztebl.2013.0603
2. https://meshb.nlm.nih.gov/search